Es gibt Leute, die auf alles eine Antwort haben. Sie wissen genau Bescheid – auch im Christlichen. Der Prophet Jeremia wirkt im Kapitel 23 des gleichnamigen Buches der Bibel etwas rechthaberisch, wenn er die anderen Propheten beschuldigt, ihre Zuhörer zu betrügen. Woher will er denn wissen, dass ausgerechnet er allein richtig liegt und alle anderen falsch? Kein Wunder, dass seine Zuhörer damals widersprochen haben. Dann taucht mitten in seiner Schimpftirade diese Frage auf:
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? (Jer 23,23)
Irritierend, denn wir denken umgekehrt: Gott ist uns nah, auch wenn wir das Gefühl haben, er sei ganz weit weg. Hier das genaue Gegenteil: Gott ist nicht immer nah, sondern auch ein Gott der Ferne. Er kann zornig sein! Gott muss zornig werden, wenn es nur noch Menschen gibt, die auf alles eine Antwort haben, aber keine Fragen mehr stellen. Zum Beispiel diese: Ist Gott wirklich so harmlos, wie er oft gezeichnet wird? Wir tendieren dazu, Gott in unsere Vorstellungswelt einzupassen und zum Objekt unserer Selbstgefälligkeit zu machen. Gott ist aber ganz anders als wir ihn uns vorstellen. Er übersteigt im wahrsten Sinne des Wortes unseren Horizont. Es gibt nur selten Momente, in denen wir darauf gestoßen werden – und die Frage Jeremias kann eine heilsame Unterbrechung unseres gewohnten Denkens sein.
Nah und fern. Gott ist uns nah; er ist aber auch fern. So paradox es klingt, stimmt beides. Ein Kollege, dessen Gemeinde ebenso wie wir Menschen ins Kirchenasyl aufnimmt, erzählte von einem Mann, der vor dem Gemeindegrundstück stand und um Kirchenasyl bat. Aber die Plätze waren voll und er musste ihn wieder wegschicken. Der junge Mann weigerte sich, die Hoffnung so schnell aufzugeben und verbrachte Stunden auf einer Bank vor dem Grundstück. Obwohl der Pfarrer so viel Gutes für andere Menschen tut, fühlte er sich in diesem Moment wie ein Unmensch. Diese Erfahrung machen viele sozial engagierte Menschen: Sie müssen eine gewisse Härte lernen, weil ihre Hilfe zwar vielen Menschen zugutekommt, aber noch viel mehr Menschen enttäuscht und verzweifelt zurücklässt. Ich frage mich manchmal, was in Jesus vorgegangen sein muss, als er in den Hallen am Teich Bethesda an all den Kranken vorbeiging und nur dem einen Mann geholfen hat, der 38 Jahre lang gelähmt war. (Joh 5,1-18)
Gott ist nicht nur nah, sondern auch fern, wenn wir zum Beispiel fair gehandelten Kaffee kaufen, weil einerseits der Kaffeepflücker einen halbwegs angemessenen Lohn bekommt, andererseits die Supermärkte viel mehr Profit damit machen als mit „normalem“ Kaffee und sich am Willen zur Menschlichkeit bereichern.
Unsere Welt ist undurchsichtig und voll von Widersprüchen – warum sollte das bei Gott anders sein? Weniger Gewissheit und mehr Ratlosigkeit, weniger Antworten und mehr Fragen würden unserem Verhältnis zur Welt und zu Gott guttun.
Noch einmal die Frage: Woher will Jeremia wissen, dass er Recht hat und die anderen falsch liegen? Woran sollen wir uns heute orientieren? Vielleicht an dem, was dem Leben und der Schöpfung dient.