An der Schwelle

Dieser Übergang vom alten ins neue Jahr ist eigentlich recht willkürlich. Als wir am 1.1.2024 aufgewacht sind, wird es sich nicht viel anders angefühlt haben als der heutige Morgen.

Dennoch ist diese Schwelle da und wir ordnen unsere Gedanken, Wünsche und Sorgen. Wir teilen sie in zwei Kategorien: Die Vergangenheit und die Zukunft. Wie war das vergangene Jahr und wie wird das neue Jahr werden? Zu beiden Fragen gäbe es viel zu sagen. Ich will mich auf zwei Aspekte beschränken und formuliere sie in zwei Fragen: Was brauchen wir nicht länger festzuhalten und was wird im neuen Jahr wichtig sein?

Zur ersten Frage: Was brauchen wir nicht länger festzuhalten? Nun, wir nehmen hoffentlich Abschied von den Sorgen, die wir uns gemacht haben. Wie viele davon waren unnütz? Wie viel Kraft haben wir für sie vertan? Ein Sprichwort sagt: „Die Sorge verleiht kleinen Dingen einen großen Schatten.“ Manche Dinge werfen ihre monströsen Schatten voraus. Erst im Rückblick erkennen wir sie als das, was sie waren: Kleinigkeiten. Dennoch ist es nicht leicht, sich von diesem ängstlichen Denken loszumachen. Selbst wenn man im Rückblick sagt, dass Gott einen durch das vergangene Jahr getragen und behütet habe, fragt man doch wieder zweifelnd, ob es im neuen Jahr auch so sein wird. Die Ungewissheit der Zukunft legt sich wie ein Schatten über unsere Gedanken. Aber vielleicht kann man es doch lernen. Dazu schlage ich ein Experiment vor: Schreibt auf einen Zettel, was euch im Blick auf das Jahr 2024 Sorge bereitet. Legt diesen Zettel an einen Ort, wo ihr ihn am 31.12.2024 garantiert findet. Zum Beispiel an die entsprechende Stelle im Losungsheft oder in den Karton des Raclette-Grills. Wenn ihr die Stichpunkte am Ausgang dieses Jahres lest, werdet ihr vermutlich überrascht sein, dass anderes wichtig wurde, als ihr vorher dachtet – und manche Sorge unbegründet war.

Vieles ist im Rückblick bedeutungslos und mit etwas Wehmut schaut man auf das, was eigentlich wichtig gewesen wäre. Das ist die zweite Frage, die die Zukunft betrifft: Was bleibt auch im neuen Jahr bedeutsam für uns? Auch diese Frage ist nicht leicht zu beantworten und klärt sich oft erst im Rückblick. Ein Paartherapeut berichtet: Ein Mann kam zu ihm in die Therapie, weil ihn seine Frau betrogen hatte. Es kam zur Scheidung. Nun wollte er diesen Bruch in seinem Leben aufarbeiten. In einer Sitzung kam der Ratsuchende zu einer erstaunlichen Erkenntnis. Er stellte fest, dass er in jener Zeit nur an seine Karriere gedacht hatte. Ihr hatte er alles untergeordnet: Seine Freunde, seine Hobbys, Frau und Kinder. Er konnte sich gar nicht mehr an die konkreten Aufgaben erinnern, die ihm damals so wichtig erschienen waren, dass er seine Familie darüber vernachlässigt hatte. Er hat aber alle Signale übersehen, an denen er hätte erkennen können, dass seine Ehe gerade an seiner Abwesenheit zerbrach. Heute, nach dieser schmerzhaften Erfahrung des Scheiterns, möchte er in künftigen Beziehungen die Prioritäten anders setzen. Es ist eigenartig, dass der Blick in die Zukunft zunächst in die eigene Vergangenheit führt. Um für das neue Jahr gerüstet zu sein, braucht es ein wenig Selbstreflexion.

Immer wieder stehen wir an solchen imaginären Schwellen, die uns zum Innehalten und ins Nachdenken bringen. Vielleicht kann man sich anhand dieser Fragen und Beispiele folgendes vornehmen für das neue Jahr: Eine Stunde weniger im Büro, beim Putzen oder dem Organisieren des Haushalts und dafür etwas mehr Zeit für Familie, Freunde und die Gemeinde.

Ich wünsche euch für das neue Jahr, dass ihr das Gute pflegt und euch weniger sorgt. Oder mit einem Satz aus den Psalmen: Eure Seele vergesse nicht, was Gott ihr Gutes getan hat!