Mangel

Es ist Abendbrotzeit und meine Tochter soll den Tisch decken. Sie geht zum Kühlschrank und ruft: „Wir haben nichts mehr!“


Ich gehe zum Kühlschrank und schaue ihr über die Schulter. Tatsächlich: Gähnende Leere. So wie immer am Sonntag. Wir kaufen am Anfang Montag oder Dienstag ein, was wir für sieben Tage brauchen. Das muss reichen.

Ich zeige auf das Gemüsefach: „Da ist doch noch was!“
Ja, aber nichts Richtiges“, erwidert sie und rauscht davon.
Ich seufze, öffne das Gemüsefach, hole drei kleine Datteltomaten und Frühlingszwiebeln heraus, schneide sie klein. Im Schrank findet sich noch eine Fischbüchse und eine Dose mit Schinkenwurst. Aus Frischkäse, Avocado und Zitrone bereite ich einen Brotaufstrich. Brot ist noch in der Tiefkühltruhe. Meine Tochter holt aus den Tiefen des Vorratsschranks eine Tomatensuppe hervor und rührt sie mit heißem Wasser an. Die Frühlingszwiebeln passen nicht nur auf das Butterbrot, sondern auch zur Tomatensuppe.

Als wir uns an den Tisch setzen, ist eine erstaunliche Vielfalt zusammengekommen, die der Kühlschrank auf den ersten Blick gar nicht hergegeben hat – und das erstaunt mich immer wieder: Wie viel wir noch haben, obwohl der Kühlschrank leer ist.
Eigentlich können wir aus dem Vollen schöpfen und der überfordernden Vielfalt der Supermarktregale. Es liegt wohl in den deutschen Genen, dass viele trotzdem von dem her denken, was fehlt. Den meisten fällt der Fleck auf der Krawatte sofort auf, übersehen aber, dass 99 Prozent sauber sind. Ich muss zugeben, ich bin nicht frei davon: Ich bin Weltmeister darin, das sprichwörtliche Haar in der Suppe zu finden.
Jesus ist da anders. Es gibt eine Geschichte in der Bibel, da hören ganz viele Menschen zu, was Jesus ihnen zu sagen hat. Das scheint sehr spannend zu sein, denn Jesus redet den ganzen Tag und am Abend sind die Menschen hungrig. Aber damals gab es keine Supermärkte in der Nähe. Sie können nur in die Dörfer gehen und sich dort etwas von den Bewohnern kaufen. Was also tun? Statt auf das zu schauen, was fehlt, lenkt Jesus den Blick auf das, was da ist. Er fragt:

Wie viele Brote habt ihr? Geht hin und seht nach! Und als sie es erkundet hatten, sprachen sie: Fünf, und zwei Fische. (Markus 6,38)

Fünf Brote und zwei Fische – das ist zu wenig, um davon 5.000 Männer und ihre Familien satt zu machen. Trotzdem lässt sich Jesus nicht entmutigen. Seine Jünger verteilen alles, er hebt seine Augen zum Himmel, betet und dann geschieht das Wunder: Die Menschen werden satt. Bei uns ist die Versuchung groß, eine Erklärung dafür zu finden: Die einen sagen, Jesus habe ein Wunder gewirkt. Das beweise seine göttliche Vollmacht. Die anderen behaupten, die Leute haben sich einfach etwas Essen mitgebracht und „zusammengeworfen“. Diese Erklärungsversuche gehen aber am Kern der Geschichte vorbei, denn sie will uns nicht sagen, woher die Mengen an Brot und Fisch plötzlich kommen. Wenn die Geschichte das vermitteln wollte, hätte ein Satz genügt. Aber das Woher bleibt im Dunkeln. An dieser Frage besteht gar kein Interesse. Das Brot ist einfach da und alle werden satt. Fertig. Entscheidend ist, dass Jesus seinen Blick nach oben zum Himmel erhebt und für das Wenige dankt, das da ist. Wir glauben, das sei zu wenig, um damit etwas auszurichten. Er glaubt, das ist so viel, dass man damit etwas anfangen kann. Oder präziser: Dass Gott damit etwas anfangen kann.
Um es in einem Bild auszudrücken, das ich in einer ERF-Andacht gehört habe: Für ihn ist das Glas nicht halb leer. Es ist aber auch nicht halb voll, sondern es kann überfließen, wenn man mit Gott rechnet.
Wir leben gerade in sehr unsicheren Zeiten. In den leeren Regalen der Supermärkte manifestiert sich die daraus entstehende Angst. Heben wir die Augen und richten sie auf Gott. Dann können wir erleben, wie sich der Mangel verwandelt in Fülle.