Königskinder

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Weisheit ist ein sperriger Begriff: Jeder stellt sich etwas anderes darunter vor. Es gibt keine „Weisheitsformel“, von der man ableiten könnte, was Weisheit eigentlich ist.

Mein Vorschlag: Weisheit bedeutet, jemandem einen Weg zu weisen. Weise sind „Ortskundige des Lebens“. Sie zeigen Menschen die Richtung, wenn sie irgendwo steckengeblieben sind. So ein weiser Mann ist der König, der sein Volk eines Tages zusammenrief. Er sagte ihnen, er habe seinen Sohn und seine Tochter heimlich unter die Kinder der Stadt gebracht. Daraufhin begannen die Stadtbewohner alle Kinder wie Königskinder zu behandeln, da sie nicht wussten, welches das echte war. Die Jahre vergingen. Die Kinder wurden erwachsen und bekamen selbst wieder Kinder. Der alt gewordene König sah mit Genugtuung die Veränderung in seiner Stadt: Die heruntergekommenen, schmutzigen Straßen wurden prachtvoll und schön. Es gab Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken und ein Schwimmbad.

Einander behandeln wie Königskinder – das könnte eine Konkretisierung dessen sein, was die Bibel Liebe nennt. Weisheit und Liebe, das zeigt unsere Geschichte, sind Kräfte, die alles verändern können. Auch folgender Vers bringt beides zusammen:

Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit. (Sirach 1,14)

Das Buch Jesus Sirach steht eher am Rand der Bibel und gehört zu den Spätschriften des Alten Testaments. Ben Sira hat um 180 v. Chr. herum den Gesamtentwurf einer theologischen Lehre geschrieben, in dem die Weisheit einen großen Stellenwert hat. Das Zitat, dass die Gottesfurcht der Anfang aller Weisheit sei, stammt ebenfalls von ihm. Weisheit ist etwas Grundlegendes. Sie ist so etwas wie der Kompass des Lebens. An ihr kann man sich immer wieder ausrichten und bestimmen, ob man noch in die richtige Richtung geht.

Aber da ist noch etwas anderes in diesem Satz: Gott lieben! Menschen, die lieben, sind schön. Sie strahlen Nähe, Wärme und Zuwendung aus. Vielleicht hatte Ben Sira solche Menschen vor Augen, als er diesen Vers schrieb. Es ist ein schöner Anblick, wenn Menschen Zärtlichkeiten austauschen, aufmerksam und zuvorkommend miteinander umgehen, einander sachte wie zufällig über den Arm streichen oder über das Haar. Ihre Gesichter sind weich und wirken verträumt, wie in einer anderen Welt.

Gott lieben ist schön. Da wird man als Christ wohl kaum widersprechen. Aber ist es auch weise? Die wenigsten würden diese Verbindung ziehen. Und doch ist sie naheliegend. Heute rechnet kaum noch jemand mit Gott. Das bedeutet, kaum jemand traut ihm zu, in diese Welt einzugreifen. Die Folge ist, dass alles von den eigenen Kräften abhängt. Weise ist das nicht, denn was passiert, wenn die Kräfte zu Ende sind und man nicht mehr weiterweiß? Weise ist es, mit Gott zu rechnen. Er kann etwas in Bewegung setzen, wo wir hoffnungslos überfordert sind – oder beides: hoffnungslos und überfordert.

Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit.